von Tom Müller, Projektkoordinator bei GEO
Rund 1,75 Millionen Tier- und Pflanzenarten wurden bisher wissenschaftlich beschrieben, das sind, je nach Schätzung, 20 oder auch nur zwei Prozent aller überhaupt vorkommenden Arten (siehe GEO 7/1999). Die Erfassung des großen Rests gleicht einem Wettlauf mit der Zeit. Derzeit verschwinden jeden Tag bis zu 70 Arten durch menschliche Eingriffe – für immer. Damit hat das Artensterben ein Ausmaß erreicht, das wohl in der gesamten Entwicklungsgeschichte einmalig ist. Vergleiche mit fossilen Funden lassen vermuten, dass eine Regeneration mehrere zehn Millionen Jahre dauern wird. Wenn Arten verschwinden, verringert sich die Artenvielfalt. Dieser Begriff ist Teil eines größeren Konzepts, der so genannten Biodiversität. Diese Bezeichnung umfasst die Vielfalt der Natur schlechthin, also etwa den Reichtum der Ökosysteme oder auch die Fülle an Genomen innerhalb einer Population, den „Genpool“.
Jede Art zählt
Die über Jahrtausende immer wieder neu eingependelten ökologischen Gleichgewichte der Erde kennen keine „überflüssigen“ Arten. Jeder Verlust bedeutet ein Ungleichgewicht. Die komplexen ökologischen Wechselwirkungen sind bislang kaum verstanden. Ausrottung oder Einschleppung einzelner Arten ziehen oft unabsehbare Folgen nach sich, wie etwa die Kaninchenplage in Australien: Ohne nennenswerte natürliche Feinde vermehren sich die fruchtbaren Kleinsäuger ungehindert und verwüsten ganze Landstriche. Indirekt zeigt sich so der Wert all jener räuberischen Spezies, die in unseren Breiten die Kaninchen „kurz halten“.
Neuseelands flugunfähige Bodenvögel sind durch europäische Ratten und Katzen nahezu von der biologischen Bildfläche verschwunden. Insgesamt gehen etwa 40 Prozent aller ausgestorbenen Tierarten auf das Konto eingeschleppter Konkurrenten (siehe GEO Nr. 2/2004).
Artenvielfalt ist die Lebensgrundlage auch des Menschen
Das Leben auf der Erde unterliegt einem ständigen Wechsel. Die Vielfalt von Arten und Anlagen stellt einen „globalen Genpool“ dar, aus dem sich bei Veränderungen der Umweltbedingungen neue Lösungen entwickeln können. Neu genutzte Tier- und Pflanzenarten sichern die Nahrungsversorgung der Menschheit: Schon im 18. Jahrhundert verhinderte die aus Südamerika eingeführte Kartoffel Hungersnöte in Preußen. Heute kann sich die alte Kulturpflanze Mais nach Einkreuzung mit einer Wildform bestimmten Viruserkrankungen widersetzen. Umso Besorgnis erregender ist es deshalb, dass nicht nur natürliche Arten schwinden, sondern auch Kulturpflanzen und -tiere. Die Hälfte der 750 bei der Welternährungsorganisation FAO registrierten Hühnerrassen gilt als bedroht, von den über 2500 heimischen Apfelsorten sind lediglich 30 im Handel, die anderen verschwinden nach und nach aus den Obstgärten. Solche Entwicklungen tragen mit bei zu einer geradezu gefährlichen Situation: Gegenwärtig gewährleisten nur 5 Tier- und 12 Pflanzenarten über zwei Drittel der Welternährung. Fiele eine davon durch eine globale Seuche oder ähnliches aus, wären die Folgen gravierend.
Auch jenseits ihrer Bedeutung für die Ernährung kann die Artenvielfalt als Ideen- und Substanzreservoir für technische Lösungen gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Mit einiger Berechtigung lässt sich behaupten, dass die Lösung für viele unserer Probleme bereits irgendwo herumkriecht oder wächst. Einige Beispiele:
- Die Bionik setzt biologische Konstruktionen technisch um: Schiffe, deren Büge wie Delfinschnauzen geformt sind, kommen mit weniger Treibstoff aus. Nach Vorbild des mit Wachskristallen besetzten Lotosblattes werden unverschmutzbare Oberflächen entwickelt.
- Pharmazeuten extrahieren aus Pflanzen immer wieder neue Wirkstoffe. Bekannte Beispiele: die im Fingerhut entdeckten Herzglykoside oder die in Spiersträuchern und Kamillenblüten enthaltene Salicylsäure, Hauptbestandteil vieler Schmerzmittel. Im kräuterkundlichen Wissen der Naturvölker wartet wohl noch so manches Medikament auf seine Verbreitung.
- Auch zur Rohstoff- und Energiegewinnung werden biologische Lösungen an Bedeutung gewinnen. Schon heute fahren Autos mit der Treibstoffbeimischung Bioethanol aus Zuckerrüben, manche ihrer Armaturen werden bereits aus den Fasern der ananasartigen Curauá-Pflanze gefertigt. Spezielle Mikroorganismen stellen kompostierbare Kunststoffe her, andere produzieren die Energieträger Biogas oder Wasserstoff.
All diese Beispiele zeigen, wie wichtig der Schutz der Artenvielfalt ist. Deshalb hat sich Deutschland rechtlich dazu verpflichtet: Mehr als 150 Staaten haben 1992 anlässlich des UN-Gipfels über Umwelt und Entwicklung (UNCED) in Rio de Janeiro die Konvention über die biologische Vielfalt (United Nations Convention on Biological Diversity, CBD) unterzeichnet. Sie ist am 29. Dezember 1993 völkerrechtlich in Kraft getreten und wurde bisher von 168 Staaten – einschließlich Deutschlands – ratifiziert. Beschlossen wurde die CBD nicht zuletzt in dem Bewusstsein, dass ökologische Stabilität auch zu politischer Sicherheit beiträgt.
Doch neben allem Pragmatismus ist die Vielfalt der Natur vor allem eines: unglaublich faszinierend und erholsam. Wir genießen den Anblick unberührter Natur – und Krankenhauspatienten werden deutlich schneller gesund, wenn sie von ihrem Zimmer aus den Blick auf eine grüne Landschaft genießen können. Von der Schönheit der Vielfalt lebt schließlich sogar ein großer Wirtschaftszweig: der Tourismus.
Es ist wohl kein Zufall, dass alle großen Religionen die Ehrfurcht vor dem Leben lehren. In der christlichen Tradition soll die Vielfalt der Natur die Weisheit des Schöpfers widerspiegeln: Gott schuf „ein jedes nach seiner Art“ und „sah, dass es gut war“. Auch bei vielen Stammesvölkern ist der Erhalt von Artenvielfalt fester Bestandteil des spirituellen Wissens. Alle Arten werden als heilige Wesen betrachtet, die weiter existieren müssen, damit die Gesamtheit des Lebens fortbesteht. Die Ureinwohner Nordamerikas etwa fühlen sich als Kinder von Mutter Erde mit allen Lebewesen seelisch verbunden. Und nach buddhistischer Lehre können Menschen als Tiere oder Pflanzen wiedergeboren werden.
Tiere und Pflanzen sind also ein unverzichtbarer Teil unseres Lebens. Was liegt da näher, als sie zu schützen?